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Internationale Tageszeitungen beschäftigen sich in ihren Mittwoch-Ausgaben mit den Entwicklungen rund um die Internetplattform Wikileaks und die Verhaftung von Wikileaks-Gründer Julian Assange.
„Dagens Nyheter“ (Stockholm):

„Leider haben die Ermittlungen (gegen Assange) bisher einiges zu Wünschen übrig gelassen. Unterschiedliche Entscheidungen von drei verschiedenen Staatsanwältinnen haben Unsicherheit und Zweifel hervorgerufen. Als dann ein Haftbefehl ausgestellt wurde, konnte dieser zuerst wegen formeller Fehler nicht ausgeführt werden. Schweden hatte, obwohl erforderlich, die Höchststrafe für Ungesetzlichen Zwang und Sexuelle Belästigung nicht angegeben. Dies hatte Fragen über die Qualitäten des schwedischen Justizapparates aufgeworfen. Deshalb ist es wichtig, dass die Polizei, Staatsanwälte und Richter jetzt kühlen Kopf bewahren und sich nicht durch den weltpolitischen Sturm beeinflussen lassen, der um die Festnahme von Julian Assange entstanden ist.“

„Le Figaro“ (Paris):

„Wikileaks hat weder die Mittel noch den Wunsch, andere Länder als die USA aufs Korn zu nehmen. Das legitime Recht, die Öffentlichkeit zu informieren, und alles, was mit einer freien und pluralistischen Information in einem demokratischen Gesellschaft zusammenhängt, hat nichts mit den Missetaten von Wikileaks zu tun. Der massive Zugriff auf diplomatische Dokumente zum Zwecke ihrer Veröffentlichung ist eine Veruntreuung privater Korrespondenz und damit nichts anderes als Diebstahl. Der in London festgenommene Julien Assange ist gewiss nicht der sympathische Internet-Rächer, als den man ihn präsentiert hat. Er ist eher ein gefährlicher Mann ohne Verantwortungsgefühl oder schlimmstenfalls ein perverser Straftäter.“

„Neue Zürcher Zeitung“:

„Die offiziellen Haftgründe stehen zwar nicht in Zusammenhang mit der Publikation der amerikanischen Depeschen. Aber angesichts der zentralen organisatorischen und ideologischen Rolle, die Assange bisher gespielt hat, dürfte seine vorläufige Ausschaltung Wikileaks empfindlich schwächen. Zugleich erhalten die USA nun Zeit, um ihr eigenes Strafverfahren voranzutreiben und gegebenenfalls selber ein Auslieferungsbegehren zu stellen. Das rechtliche Fundament dafür ist jedoch höchst labil, weil in den USA die Publikation von Staatsgeheimnissen bisher stets den Schutz des Ersten Verfassungszusatzes über die Redefreiheit genossen hat. Mit juristischen Mitteln ist solchen Lecks schlecht beizukommen. Erfolgversprechender scheint es, wenn die USA die Gefahr des Datendiebstahls an der Wurzel anpacken und wesentlich mehr in die Sicherheit ihrer Regierungsdatenbanken investieren.“

Die „WELT“ (Berlin):

„Aus purer Hilf- und teilweise auch Ahnungslosigkeit haben wir (…) diesem zum Teil unverantwortlichen Treiben viel zu lange zugesehen, während uns sogenannte Netzexperten glauben machen wollten, das Internet schaffe schon irgendwie seine eigene Ethik. Das ist nicht passiert. Stattdessen gilt es bei manchen heute schon als Zensurmaßnahme, wenn man gegen Kinderpornografie zu Felde zieht. Dieser digitalen Kultur des „Anything goes“ (…) entstammt auch Julian Assange (…). Offenbar hat er angenommen, dass die Elastizität von Recht und Gesetz im Internet auch im wahren Leben gilt. Da lag er aber falsch. Insofern ist seine Festnahme nur der Beleg dafür, dass rechtsstaatliche Prinzipien im wahren Leben konsequenter durchgesetzt werden.“

Die „Süddeutsche Zeitung“ (München):

„Überall nutzt Assange die Freiheiten, die demokratische Rechtsstaaten bieten. (…) Dennoch klagt er diese Demokratien an, schimpft sie ‚autoritäre Konspirationen‘, die er durch – ja, man muss das Wort benutzen – totalitäre Transparenz zur Offenheit zwingen will. Für sich selbst will Assange die Regeln dieser Systeme nicht akzeptieren. In Schweden liegen seit August Anzeigen wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung gegen den Mann vor. (…) Jeder Rechtsstaat, auch der schwedische, geht Strafanzeigen nach. Wäre Assange in Schweden beraubt oder entführt worden, die Staatsanwaltschaft hätte auch zu seinen Gunsten ermitteln müssen. Der Rechtsstaat lebt nicht von Fantasien über Verschwörungen, sondern von Fakten.“

„Corriere della Sera“ (Mailand):

„Julian Assange hat den Rücktritt des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama gefordert, eben jenes US-Präsidenten, der vor zwei Jahren in den Herzen der Welt eine neue Hoffnung weckte. Für Assange beweisen die Dokumente seiner Enthüllungsplattform Wikileaks, dass die Heimat der US-Regierung nicht ein Tempel der Demokratie, sondern viel mehr eine Höhle des Missbrauchs und der Illegalität ist. Amerika fühlt sich verständlicherweise verletzt und sieht in Assange einen verschworenen Feind. Doch mehr als Handschellen für Assange scheint eine Revision des angeschlagenen Systems der US-Diplomatie sinnvoll. Und alle diejenigen, die heute in Washington nach Handschellen für Assange schreien, sollten sich erinnern, dass die USA erst vor einem Jahr auf die europäischen Initiativen für einen Schutz der Privacy im Internet eilig reagierten – mit einer scharfen Verurteilung aller Versuche, die unendliche Freiheit des weltweiten Netzes zu beschneiden.“